Justinus Kerner folg wie ein Engel durch die Kirche
Klöster waren schon immer ein Ort der Kreativität – kulturell und wirtschaftlich. Auch die strengen Regeln legten die Mönche oft äußerst kreativ aus. Sie umgingen das Schweigegelübde mit Gebärdensprache, und weil Fleisch weitgehend tabu war, deklarierten sie Fische kurzerhand zu Flussgemüse und Biber zu Fischen. Ein Maulbronner Laienbruder namens Jacob versteckte angeblich sogar Fleisch vor dem lieben Gott in Teigtaschen. Das war die Geburtsstunde der Maultaschen.
In Maulbronn blieb diese Kreativität auch nach der Reformation, im Zuge derer die Klöster 1556 aufgelöst wurden, erhalten. Viele Dichter ließen sich von den alten Mauern inspirieren. Seither hat die Poesie hier einen festen Platz. Auf dem literarischen Rundgang vom Kräutergarten zum Paradies – der einzigartigen romanisch-gotischen Kirchenvorhalle –, durch Kreuzgang und Kirche, ins Herrenrefektorium und zum Brunnenhaus verbindet Melanie Kalcher Klostergeschichte mit Klostergeschichten: ausgewählten Texte von Dichtern, deren Leben mit Maulbronn verflochten war. So erzählen die Gemäuer ganz eigene Storys: lustige und intime, schwärmerische und nachdenkliche.
Die Klosterkirche betritt man mit einem Lausbub: Der spätere Arzt und Dichter Justinus Kerner, auch Schüler in Maulbronn, berichtet in seinem „Bilderbuch aus meiner Knabenzeit“, dass er sich mit Freunden gern im Chor aufhielt. Die Schnitzereien des Gestühls, der Hochaltar, das zauberhafte Licht regten ihre Fantasie an. Sie hängten sich an die Glockenseile, um wie fliegende Engel bis fast zum Gewölbe hinaufzuschwingen. Im Parlatorium, dem Sprechsaal der Mönche, kommt Friedrich Hölderlin zu Wort, der wie Hesse hier Seminarist war und ebenfalls unter dem Internatsleben litt. Er verliebte sich unsterblich in Louise, die Tochter des Klosterverwalters, und widmete ihr eine Reihe romantischer Gedichte.